„Das Internet ist für uns alle Neuland“: Mit dieser viel zitierten Aussage erntete Angela Merkel jüngst Hohn und Spott. Schließlich prägt das Internet seit mehr als 20 Jahren unseren Alltag. Die Äußerung der Bundeskanzlerin unterstreicht eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Veränderungen, die durch das Internet ausgelöst werden. Der NSA-Abhörskandal ist das aktuellste Beispiel dafür, wie das Internet trotz seiner gesellschaftlichen Verankerung immer noch unbeholfene Reaktionen hervorruft. Auch in der Entwicklungspolitik ist das Internet keineswegs Neuland.
Allerdings sind Debatten über die entwicklungspolitische Bedeutung des Internets stark polarisiert: Während „Cyberutopisten“ das Internet bereits als neuen Heilsbringer für Entwicklungsländer ausrufen, warnen „Cyberskeptiker“ vor zu großen Erwartungen. Vier Missverständnisse und deren Aufklärung geben ein umfassenderes Bild über den Zusammenhang zwischen dem Internet und Entwicklungspolitik.
Das Internet wird nur in reichen Ländern genutzt
Bereits bei den Weltgipfeln zur Informationsgesellschaft der Vereinten Nationen in Genf (2003) und Tunis (2005) stand das Internet als Entwicklungsthema im Blickpunkt. Das Ziel lautete: Durch verstärkte internationale Kooperation die globale „digitale Kluft“ zwischen reichen und armen Ländern zu schließen. Zehn Jahre später ist die Forderung nach einem gerechteren Zugang zu Informations- und Kommunikationstechnologie noch immer aktuell. Gleichzeitig ist die Zweiteilung in einen armen Teil der Welt, der offline ist, und einen reichen Teil der Welt, der online ist, überholt. Gemessen am Anteil der Bevölkerung bleibt die Zahl der Internetnutzer mit knapp einem Drittel in Entwicklungs- und Schwellenländern noch weit hinter den Industrieländern zurück. In den ärmsten Ländern haben über 90 % der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet. Andererseits breitet sich das Internet weltweit rasant aus: 65 % aller Internetnutzer kommen mittlerweile aus Entwicklungs- und Schwellenländern, wo insbesondere der Internetzugang über Mobiltelefone boomt.
Das Internet ist ein Entwicklungsmotor
Erst kürzlich haben Google und Facebook Kampagnen angekündigt, um mehr Menschen in Entwicklungsländern Zugang zum Internet zu ermöglichen. Zusätzlich verteilen Organisationen Laptops an Schülerinnen und Schüler in Entwicklungsländern, um Bildung zu fördern. Jedoch ignorieren solche Initiativen oftmals die strukturellen und sozialen Probleme vor Ort – wie etwa einen Mangel an ausgebildeten Lehrern oder eine instabile Energieversorgung. Zusätzlich ist Informationstechnologie eher ein Verstärker bestehender Fähigkeiten und sozio-ökonomischer Startvoraussetzungen. Technologie an sich ist kein Wundermittel zur Lösung wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Probleme. Leider führt Technologiebegeisterung oft zur Vernachlässigung konkreter Probleme wie mangelnder Gesundheitsversorgung und fehlender Infrastruktur. Darüber hinaus sind Studien, die auf einen positiven Zusammenhang zwischen Internetzugang und Wirtschaftswachstum hindeuten, höchst umstritten. Das Internet kann sich positiv auf Entwicklungsprozesse in ärmeren Ländern auswirken – aber nur in begrenztem Umfang. Insbesondere der wachsende Informationsaustausch zwischen Personen und Organisationen trägt potenziell zur Lösung von Entwicklungsproblemen bei. Die Global Pulse-Initiative der Vereinten Nationen zum Beispiel erschließt Innovationen im Bereich des Datenmanagements und der Echtzeitanalyse. So können u. a. Frühwarnungen vor Krankheitsausbreitungen, Naturkatastrophen oder Nahrungsmittelknappheit erstellt werden.
Das Internet verbreitet Demokratie
In der Berichterstattung über die Protestbewegungen in der arabischen Welt war oft von Twitter- oder Facebook-Revolutionen die Rede. Das Internet als Kommunikationsinstrument hat den Oppositionsbewegungen sicherlich dabei geholfen, sich zu organisieren. Auch Informationen über mögliche Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch gelangen mit Hilfe des Internets schneller an die Öffentlichkeit. Aber nachhaltiger politischer Wandel hängt letztendlich von langfristig gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Institutionen ab. Außerdem wird zunehmend deutlich, dass auch autoritäre Regime das Internet für Propaganda und Überwachungszwecke nutzen können. Autoritäre Staaten regulieren den Zugang zu Informationen, indem sie Webseiten blockieren oder bestimmte soziale Netzwerke sperren. Doch der NSA-Skandal zeigt, dass auch demokratische Staaten das Internet zur großflächigen Überwachung missbrauchen. Eine derartige Nutzung des Internets führt zur Einschränkung demokratischer Grundrechte und der Freiheit von Internetnutzern. Ein positiver Einfluss des Internets auf Demokratisierung per se ist daher zweifelhaft.
Entwicklungsländer bedrohen die Internetfreiheit
Entwicklungs- und Schwellenländern sehen ihre Interessen im bestehenden Modell der Internet-Governance nicht ausreichend berücksichtigt. Momentan sind in den USA ansässige private Institutionen für die technische Steuerung des Internets verantwortlich. Diese „Multistakeholder-Netzwerke“, welche die Internetstandards entwickeln und das Adresssystem verwalten, machen das Internet als globales Medium erst funktionsfähig. Entwicklungs- und Schwellenländer fordern dagegen eine stärkere Rolle der Regierungen im Rahmen der Vereinten Nationen. Kritiker sehen darin die Gefahr der Verstaatlichung des Internets. Diese Befürchtung ist mit Blick auf die Positionen einiger Staaten wie Russland, China und Iran gerechtfertigt. Viele Länder schätzen aber auch die Vorteile des bewährten „Multistakeholder-Modells“ und streben Reformen zu dessen Weiterentwicklung an. Zum Beispiel haben Länder wie Indien und Brasilien zuletzt ihre ursprünglich staatszentrierten Ideen für das Internet abgeschwächt. Das Internet Governance Forum, das am 22. Oktober 2013 in Bali zusammentritt, bietet für die laufenden Reformdiskussionen eine wichtige Dialogplattform.
Obwohl das Internet längst kein entwicklungspolitisches Neuland mehr ist, bleiben viele Fragen offen: Welche qualitativen Unterschiede gibt es in der Nutzung des Internets zwischen reichen und ärmeren Ländern? Welche entwicklungspolitischen Initiativen können eine produktive Nutzung des Internets in Entwicklungsländern unterstützen? Wie kann die Internet-Governance ihre Grundprinzipien und Funktionsfähigkeit bewahren, ohne die Interessen von Entwicklungsländern zu vernachlässigen? Abseits von Cyberutopien und Cyberskepsis gibt es ein breites Feld von Erkenntnissen über entwicklungspolitische Einflüsse des Internets. Dieses müssen wir erweitern und vertiefen. Hier liegt das echte entwicklungspolitische Neuland.
Von Heiner Janus und Sebastian Paulo, (DIE)
© Deutsches Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn.