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Foto von Mike Hindle

EUROPA – Mehr als eine Hoffnung

Zunächst einmal erleben wir die Welt vielfach als immer unübersichtlicher, chaotischer, fragmentierter und gefährlicher. In Bezug auf Europa ist zunehmend von gesichtsloser Technokratie und absurder Bürokratie in Brüssel, von einer Sinnkrise der europäischen Vision und der drohenden Beherrschung des Lebens durch brutale Markt- und Machtgesetze auch im europäischen Lebensraum die Rede.

Dorothea F. Zimmer 

Während ich darüber nachdenke, auf welche Weise ich die Fülle meiner Gedanken zum Thema „Hoffnung Europa“ in einem kurzen Artikel orchestriere, gehe ich immer wieder hinaus in die Sonne, um die verwelkten Blüten und Blätter meiner Pflanzen auf der Terrasse abzuzupfen. Wie so oft amüsiere ich mich über das Symbolhafte meines Tuns: Das Alte, das sterben will, entfernen, um dem Neuen Platz zu machen. Mein Körper setzt in Szene, was mich im Inneren bewegt: Was also ist das Neue, das – auch, und vielleicht insbesondere – in Europa Raum zur Entfaltung fordert?

Gleichzeitig sind wir alle mehr miteinander verbunden als je zuvor. Wir sprechen von der Hoffnung Europa für eine Welt in Balance, von neuem Bewusstsein, das notwendig ist, um die komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern. Wir entwickeln viele wunderbare und weiterführende Projekte gegen Armut, Ungerechtigkeit, Epidemien, Katastrophen und Kriege. In allen Teilen der Erde sammeln sich Menschen, die dazu beitragen wollen, eine neue zutiefst menschliche und lebensbejahende Weltordnung auf den Weg zu bringen.

Was brauchen wir, damit aus all diesen Energien transformative gesellschaftsformende Kraft wird? Sicherlich mehr und etwas anderes als immer wieder neue Organisationen, neue Projekte und guten Willen, den wir mit moralischen Appellen einfordern. Kurz gesagt: {josquote}Wir brauchen neues Denken.{/josquote} Was heißt das?

Die Aufgabe ist nicht, etwas zu sehen, was noch niemand gesehen hat, sondern zu denken, was noch niemand gedacht hat über das, was alle sehen, wie Schopenhauer einmal sagte. Das bedeutet, dass wir eine neue Perspektive auf die Welt benötigen, die nicht nur ändert, was wir denken, sondern vor allem, wie wir denken, wie und durch welche Brille wir auf die Welt schauen. Eine Perspektive, die nicht vor der wachsenden Komplexität in grobe Vereinfachung zurück weicht, sondern eine neue Ordnung im komplexen Chaos, Zusammenhänge in den Fragmentierungen und die tieferen dynamischen Kräfte, die Denken, Handeln und Identität von Individuen, Organisationen, Institutionen und ganzen Kulturen formen, entdeckt. Gewöhnlich nennt man dies ein neues Paradigma.

Das gegenwärtig neu emergierende Paradigma scheint mir die Einsicht in die evolutionäre Dynamik unseres Bewusstseins zu sein. Sie folgt offenbar einer inneren Ordnung, die sich nicht starr vollzieht, aber in Ebenen aufeinander aufbaut wie eine Art Tonleiter, die eine ungeheure Vielfalt an Melodien erlaubt, die in dir, in mir und in jedem Wir auf allen Ebenen erklingen. In Spiral Dynamics integral, dem präzisesten und fortgeschrittensten Modell kultureller Entfaltung, das mir bekannt ist, wurde diese Dynamik, die unserer Bewusstseinsentwicklung als Individuen sowie auch unserer „kulturellen DNA“ zugrunde liegt, erforscht. In Südafrika fand es bereits seine erste große Feuertaufe. Don Beck, Pionier und Inspirator dieser neuen Perspektive, trug in den fast 20 Jahren, in denen er mit Menschen auf allen Ebenen im Land südlich des Limpopo arbeitete, wesentlich dazu bei, die Rassenpolarisierung zu überwinden und einen friedlichen Übergang in eine demokratische Gesellschaft zu ermöglichen. Denn „es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“, wie Kant bereits wusste.

Die beste Nachricht dabei scheint mir zu sein, dass sowohl die Feldforschung von Spiral Dynamics wie auch die geniale Schau von Philosophen wie Jean Gebser oder die immense theoretische Arbeit von Ken Wilber darauf hinweisen, dass die Menschheit bewusstseinsmäßig vor einem Quantensprung steht. Eine neue Intelligenz emergiert, die die Welt nicht mehr nur durch die Brille der eigenen Wertvorstellungen anschaut, sondern sich der jeweiligen Brille, die benutzt wird, gewahr ist. Dieses Bewusstsein, das sich in einzelnen Menschen schon immer und überall manifestiert hat, fragt nicht mehr nach den eigenen Vorlieben, sondern danach, was das Leben auf der jeweiligen Stufe der Entwicklung im einzelnen oder in einer Gesellschaft benötigt, um natürlich fließen und sich weiter entwickeln zu können. In dem Maße, in dem dies gelingt, kann auch der endlose „Wir gegen die anderen“-Kampf einer dritten Position weichen, die Win-win-win-Lösungen erarbeitet und jedes Wertsystem in seiner Würde, seiner Einzigartigkeit und seiner Bedeutung für die Weltgestaltung wertschätzt und fördert.

Was bedeutet dies nun für unser Thema? Betrachten wir das Netzwerk Europäische Union als Ganzes, so können wir erkennen, dass die Bedingungen für einen Quantensprung auf kultureller Ebene hier so groß sind wie nur in wenigen anderen Regionen der Welt. In Europa wurde die Moderne geboren, die das Glück im Diesseits auf ihre Fahnen geschrieben hatte und dieses Diesseits in beispielloser Weise vermaß, erforschte und veränderte. Bis wir erkannten, dass es noch mehr geben muss und damit begannen, unser Inneres zu erforschen und allem Lebendigen unter der Sonne ein Recht auf Leben und Würde zugestanden. Dies steht nicht nur auf dem Papier, sondern ist heute Bestandteil einer europäischen Kultur geworden. Dass damit ein Wertesystem der exzessiven Konsensbildung und die Philosophie des „Leben und leben Lassens“ entwickelt wurden, war natürlich und gut. Dass wir dabei stehen bleiben und sie für die ultima ratio halten, verschafft uns endlose Sitzungen und bürokratische Auswüchse in den Verwaltungen, auch in Brüssel. Die zunächst noch damit einhergehende Naivität macht uns verwundbar für Fundamentalismus und Terror. Und – in unserem Kulturgedächtnis sind sowohl der enorme Reichtum europäischer philosophischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Tradition als auch die Erfahrung der Verstrickung in grausame Verbrechen lebendig und verlangen von uns, die Lehren aus beidem in ihrer Tiefe auszuloten und an die Welt weiter zu geben.

All dies und noch mehr macht Europa zu einem kulturellen Nährboden, auf dem Neues, ein neues Miteinander wachsen kann. Meshworking nenne ich es in Ermangelung eines guten deutschen Begriffs dafür. Meshworking bezeichnet die Arbeitsweise des Gehirns und ist der für mich nächste evolutionäre Schritt nach Netzwerken. Etwa wie auch Organe wie Leber, Herz und Nieren kooperieren, die dies ja auch nicht tun, weil sie das Gleiche machen, sich gut leiden können und ähnliche Werte haben (vielleicht ja auch, was wissen wir schon über das Innenleben unserer Zellen und Organe?). Sie arbeiten zusammen für ein größeres Ganzes und orchestrieren das Wunderwerk lebendiger Körper! Jedes Teil hat seine Einzigartigkeit und trägt zum größeren Gemeinsamen bei – ein wunderbares Modell, aus dem wir noch viel lernen können.

An einem Beispiel will ich noch etwas konkreter verdeutlichen, worum es mir auch geht. Ein großes Problem Europas, zumindest in einigen Kernländern, sei die Überalterung, sagt man. Für mich bedeutet das mehr, als über neue Rentensysteme nachzudenken und die „Senioren“ für die Konsumentenwerbung und das Arbeitsleben neu zu entdecken. Vielleicht ist es vielmehr ein Hinweis darauf, dass wir eine neue Perspektive auf das Älterwerden haben sollten. Wertesysteme im Innern – Alte eher als Last zu betrachten – zeigen sich im Außen als „Problem“. Vielleicht geht es darum, dass Europa als der „alte Kontinent“ die Weisheit des Alters wieder entdeckt statt mit dem eher jugendlichen Schwung anderer Länder, in dem oft auch viel naiver Optimismus steckt, konkurrieren zu wollen. Vielleicht geht es insgesamt darum, dass alle Länder der Welt ihre besondere Aufgabe finden müssen, um zu einem prosperierenden und lebendigen Weltkörper beizutragen. Das Thema hat noch einen anderen Aspekt für mich. Frauen haben im Laufe der Evolution die Arbeit übernommen, nicht nur Kinder zu gebären, sondern auch die Liebe und Fürsorge für Kinder und Mann zu garantieren, die für ein Überleben der Spezies genau so notwendig sind wie Essen und Trinken. Die öffentliche Sphäre ist, seit sie sich als solche von der Privatsphäre getrennt hat, den Bedürfnissen der Frauen und der Kinder nicht gut angemessen. In Europa entstehen nun kulturelle und soziale Bedingungen, um hier etwas ändern zu können. Vielleicht benötigen viele Frauen ihre Energie jetzt vor allem, um etwas in der Menschheitsgeschichte vollkommen Neues auszubrüten, wenn es auch noch weitgehend unbewusst geschieht, und haben sich deshalb ein wenig vom Kinderkriegen zurückgezogen? Das Neue ist, an der Seite des Mannes als gleichberechtigte und gleichwertige Gefährtin diesen Planeten mitzugestalten. Die Frage stellt sich, wie können Frauen diese neue Aufgabe bewältigen, ohne ihre bisherige Verantwortung zu verraten?

Vielleicht finden wir dies in nächster Zukunft heraus – denn dieser Kontinent, so vermerke ich mit Vergnügen, ist ja nun seinem Mythos zufolge weiblich! Die schöne Europa hat den Stier bei den Hörnern gepackt und ihn sanft, aber entschieden bezwungen…. Dies lasse ich zur Kontemplation einfach mal so stehen!

Vielleicht ist es an der Zeit, nach der Charta der Unabhängigkeit nun eine {josquote}Charta der Verbundenheit{/josquote} zu schreiben. Mit einer Vision, die nicht nur Spielfeld für privilegierte Teile der Bevölkerung ist, sondern allen Menschen auf allen Entwicklungsstufen ihre Würde zugesteht, aber auch ihre Verantwortung zuweist und sie zur Mitgestaltung ermutigt und herausfordert. Ganz gewiss benötigen wir Menschen, die mit dieser Perspektive in Europa Führungsaufgaben übernehmen.

Jaques Delors sprach davon, dass wir Europa eine Seele geben müssten. Nun, ich denke, sie ist da. Wir müssen nur lernen, ihr zu lauschen und ihr erlauben, sich auszudrücken. Vielleicht finden wir ja jetzt im 21. Jahrhundert hier unseren Heiligen Gral!

Weiterführende Texte: Don Beck, Chris Cowan, Spiral Dynamics, Mastering values, leadership and change, Massachusetts 1996, www.spiraldynamics.net Don Beck, Ein neues Bewusstsein für eine Welt in der Krise, in: What is Enlightenment?, Ausgabe 16, Sommer 2005, www.wie.org Don Beck, Windmills, Tulips & Fundamentalism, The Netherlands in Crisis, in: Kosmos Volume IV, Number 2, Spring/Summer 2005, www.kosmosjournal.org Mark Leonard, Why Europe will run the 21th century, London 2005

Dorothea F. Zimmer vertritt die spiraldynamics-group in Deutschland, ist Mitglied des Kernteams des Center of Human Emergence, arbeitet als Coach und leitet Seminare und Leadership-Trainings Aus Hoffnung Europa, hrsg. von der Global Marshall Plan Initiative, Hamburg 2006

www.globalmarshallplan.org

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Nachhaltigkeit + die Entdeckung Trojanischer Pferde…

Populäre Projektionen dessen, wie eine Bewusstseinsveränderung aussehen wird, sind in den meisten Fällen nur eine Neugestaltung der „alten Denkschablonen „. Eine größere, bessere Box, in der das Paradigma aufgewertet wird, das die Bedingungen verbessert, unter denen wir unsere Sucht auf eine „grüne“ Art und Weise genießen können.

So wichtig wie das ökologische Bewusstsein ist, es ist nicht genug. Das neue Paradigma kann nicht aus der intellektuellen Abstraktion einer dualistischen Interpretation einer „besseren Welt“ verwirklicht werden, die auf der Infrastruktur der existierenden Varianten-Matrix aufbaut, die dieses Paradigma erzeugt.

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