Der Weg des Westens. Pathways to Bliss. Mythology and Personal Transformation – unter diesem Titel ist ein Buch in der Reihe der Collected Works of Joseph Campbell erschienen. Follow your bliss, lautete der Rat, den der späte Joseph Campbell seinen Schülern zu geben pflegte, kurzgefasst in drei, allerdings missverständlichen, Worten. Bliss – wie soll man das eigentlich übersetzen? Folge deiner Freude heißt es in der deutschsprachigen Ausgabe des Klassikers “Die Kraft der Mythen”, und wer zwischen Spaß und Freude zu unterscheiden weiß, für den mag diese Wortwahl immerhin in die richtige Richtung weisen.
Tu was du willst steht auf dem Talisman geschrieben, den der junge Bastian in Michael Endes genialem Bestseller Die unendliche Geschichte erhält, und der ihn durch sein eigenes Abenteuer mythologisch inspirierter Transformation führt. Und natürlich glaubt auch Bastian zunächst, in dem Sinnspruch eine Aufforderung zum Hedonismus sehen zu dürfen, bevor er, nach zahlreichen Irrwegen, zu jener Lebenshaltung gelangt, die Campbell seinen Schülern mit dem Rat Folge deiner Freude nahezulegen versuchte: Tue, was in dir steckt, entwickle deine Potential, und lass dich dabei von nichts abbringen, weder von gutgemeinten Ratschlägen, die vielleicht sicheres Einkommen und hohes Ansehen versprechen, jedoch den inneren Anlagen eines Menschen nicht gerecht zu werden vermögen; Folge dem was zutiefst in dir steckt, und lass dich nicht davon abbringen, dein Lebenspotential zu verwirklichen, nicht von sozialen Spielregeln, genausowenig jedoch von Angst, Leid, Begierde — den biologischen verwurzelten Instinkten, die das nach Sinn und Erfüllung strebende Individuum zu transzendieren sucht.
Follow your bliss meint keinen bequemen Weg. Es ist der Weg des Westens, wie er erstmalig in den mittelalterlichen Gralsgeschichten besungen wird: Das Ideal des Individuums, das seinen eigenen Weg geht, ohne sich den Ansprüchen der Gesellschaft unterzuordnen. Ist das egoistisch? Wäre ein gesellschaftliches Miteinander überhaupt noch möglich, würde jeder vorrangig einer nebulösen inneren Stimme folgt, statt den Weisheiten, die üblicherweise in Schulen, Kirchen, Verbänden und Elternhäusern gepredigt werden, und die auf Gemeinschaftsinteressen zielen?
Campbell pflegte auf solche Einwände zu antworten, dass wir zunächst der Entwicklung eines Innenlebens bedürfen, um in der Welt wirken zu können. Wer nur nach außen agiert und wessen Gedanken sich vorrangig um soziale und politische Entwürfe drehen, ohne zuvor das eigene psychische Potential zu einer gewissen Reife gebracht zu haben, wird allzuschnell zu einem bloßen Vehikel einer Ideologie, zum Werkzeug einer politischen, kirchlichen oder sozialen Institution.
Wie entwickelt man ein Innenleben? Wir wird aus dem abhängigen Geschöpf, als das wir geboren werden, ein selbständig denkendes, authentisch fühlendes und selbstbewusst handelndes Individuum? Wie lässt sich aus dem komplexbeladenen Etwas, zu dem wir uns, dank der manipulativen Slogans von Erziehern und Werbestrategen bald entwickelt haben, eine Persönlichkeit formen?
Die Lektüre von Pathways of Bliss dürfte nicht der schlechteste Anfang sein. Leider täuscht das Titelbild, das einen Ausschnitt aus Leonardos Felsenmadonna zeigt, über das eigentliche Thema hinweg, steht dieses Gemälde doch für traditionelle Malerei und traditionelle Religion. Zwar lassen sich Bezüge zum mythologischen Thema der Jungfrauengeburt herstellen, die Campbell als geistige Transformation psychologisch zu deuten versucht, und Leonardo war zu seiner Zeit ohne Zweifel ein vorzeigbarer Vertreter des modernen humanistisch-individualistischen Menschen. Dennoch: Hätte ein Bild etwa von Paul Klee, dessen Wertschätzung durch Campbell, als ein Künstler, der unbeirrt nach neuen und eigenen Wegen forscht, im Ankauf zweier Bilder durch den Mythologen Ausdruck fand, nicht besser gepasst? Oder vielleicht das Werk eines zeitgenössischen, mythologische Tiefen auslotenden Künstlers wie Bill Viola oder Mimmo Paladino?
Über die typische Situation in der zweiten Lebenshälfte, nachdem den Werten der sozialen Gruppe Folge geleistet wurde, sagte Campbell einmal in einem unveröffentlichten Vortrag: “Leute, die nicht zu ihrem Innenleben gefunden haben und nicht wissen, wie es zu finden ist. Sie wissen nur, wie man sich an der Hand hält und im Kreis herumtanzt. Was ist mit dem was sich innen befindet? [Wenn man sich darum kümmert] ist es nicht möglich, Händchen zu halten und im Kreis zu tanzen.”
Campbell hatte seine liebe Not mit den Studenten der Achtundsechziger-Generation, deren Werte in seiner Einschätzung mehr soziale Einbindung als Fokussierung auf das Innenleben verkörperten: Der Tanz im Kreis als Sinnbild für die Bewegungslinie auf dem Rand des Rades, wo die innere Mitte doch allein in der scheinbar unbewegten, um sich selbst kreisenden Nabe des Rades zu finden ist, dem Zentrum eines jeden angemessen ausgeführten Mandala gleich.
Campbells Eigenart war es – und darin unterscheidet er sich maßgeblich von vielen seiner Kollegen – nicht nur Wissensstoff zu verbreiten, sondern das Material, das uns durch die Mythologien der Welt zur Verfügung steht, auf eine Weise vor uns auszubreiten, dass der Dschungel der Symbole wir ein Garten angelegt scheint, in dem wir uns leichter zu orientieren und zurechtzufinden vermögen. Der späte Campbell zeigte sich auf seinen Vortragsreisen noch stärker dem Einzelnen verpflichtet, und bemühte sich, mehr noch als in seinen frühen Werken, eine direkte Beziehung zum Leben seiner Zuhörer herzustellen, ganz so wie er es zuvor 25 Jahre lang als Collegelehrer mit seinen Schülern praktiziert hatte.
“Für viele, viele Jahre”, so beginnt das Kapitel über Carl Gustav Jung und die Suche nach einem persönlichen Mythos, der uns durch das Leben zu führen vermag, “habe ich eher auf abstrakte Weise über Mythologie gesprochen — wie es hier ist, wie es dort ist — und es scheint an der Zeit zu sein, dass ich die Herausforderung annehme, etwas darüber zu sagen, wie es für Sie und mich sein könnte.” Campbell doziert hier über Jung, dem im Anschluss an die Fertigstellung seines Hauptwerkes Symbole der Verwandlung schlagartig klargeworden war, “was es bedeutet mit einem Mythos zu leben, und was es bedeutet ohne zu leben.” (C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken)
Die alten Mythen und Religionen, wie Campbell ausführt, funktionieren nicht mehr. Wie bahnt man sich seinen Weg durch die Welt, ohne auf die psychologisch hilfreichen Symbole verzichten zu müssen, die früheren Generationen als nicht hinterfragter Leitfaden galt? Und wie zugleich lässt man sich auf die in den Symbolen der Religionen und Mythologien mitschwingenden Bedeutungen ein, ohne sich ihrem suggestiven Potential zu unterwerfen, das sie für Ideologien und Manipulationen nutzbar macht, wie sie in der Welt der Politik, der Werbung und der Journalistik allgegenwärtig sind?
Zwei Wege, so meint der Autor, stehen uns weiterhin offen: Der eine besteht darin, einem Vorbild aus unserer Jugendzeit zu folgen, in dem wir eine Personifizierung der für uns relevanten psychischen Energien vorzufinden meinen. Die Kunst dürfte hierbei vor allem darin liegen, eine gute Wahl zu treffen, und anschließend am selbstgewählten Modell zu lernen, ohne bloß nachzuahmen, wodurch das ureigene innere Potential unentwickelt bleiben müsste. Der andere, anspruchsvollere Weg besteht darin, auf unsere Freude (bliss) zu hören, und unabhängig von vordergründigen sozialen Werten, wie Sicherheit, Erfolg und Ansehen, konsequent zu entwickeln, was in uns angelegt ist und wozu wir uns berufen fühlen. Anspruchsvoller ist diese Variante, weil es dabei um Möglichkeiten geht, von denen kein Lehrer weiß, da sie nur in unseren eigenen Anlagen schlummern. Ohne ein würdiges Vorbild benennen zu können, dem wir nacheifern könnten, bleiben wir hierbei letztlich auf uns selbst angewiesen, auch wenn, wie Campbell in Der Heros in tausend Gestalten feststellt, das archetypische Labyrinth der Heldenreise schon gründlich erforscht ist, und wir bei aller Einzigartigkeit unserer Erfahrung doch immer auf menschentypische Situationen treffen werden, die uns dann als Leitfaden dienen mögen.
Campbell über die fünf Werte, für die, laut den Forschungen des humanistischen Psychologen Abraham Maslow, die Menschen leben: “Überleben, Sicherheit, persönliche Beziehungen, Ansehen, Selbstverwirklichung – dies sind, meiner Erfahrung zufolge, exakt diejenigen Werte, für die eine mythologisch inspirierte Person nicht lebt. Sie haben mit der primären biologischen Funktion zu tun, so wie diese vom menschlichen Bewusstsein aufgefasst wird. Mythologie beginnt, wo der Wahnsinn anfängt. Eine Person, die wirklich gepackt wird von einem Ruf, einer Hingabe, einem Glauben, einer Begeisterung, wird ihre Sicherheit opfern, wird sogar ihr Leben opfern, wird persönliche Beziehungen opfern, wird nichts geben auf persönliche Entwicklung; Sie wird sich gänzlich ihrem Mythos hingeben. Christus gibt uns den Schlüssel, wenn er sagt: Derjenige, welcher sein Leben um meinetwillen verliert, wird sein Leben finden.”
Campbell spürte”, wie Herausgeber David Kudler in seinem Vorwort feststellt, “dass Mythos eine Rahmenstruktur für persönliches Wachstum und Transformation bereitstellt, und dass ein Verständnis der Wegweisen, auf denen Mythen und Symbole das individuelle Bewusstsein zu berühren verstehen, eine Möglichkeit bietet, ein Leben zu führen, das in Einklang mit der eigenen Natur steht — ein Wegpfad zur Freude (pathway to bliss)”.
Das Zurücktreten primärer biologischer und sozialer Werte zugunsten einer völligen Hingabe an ein Ideal oder eine Idee, die zu begeistern und unseren innersten Kern in Schwingung zu versetzen vermag, muss, solange es sich dabei um eine Angelegenheit handelt, die im Einklang mit unserem Selbst steht, keineswegs das Ende der Persönlichkeitsentwicklung bedeuten. Im Gegenteil, ein solcher schmerzhafter Prozess kann als Initiation wirken und Selbstverwirklichung in einem höheren Sinne begründen, wo die ursprünglich anvisierte Persönlichkeitsentwicklung vielleicht nur vordergründig unser Wille war. Ein wesentlicher Faktor auf dem Wegpfad der Freude ist es, zu lernen, welche Wünsche von unserem vordergründig dominierenden Ego ausgehen, und welche hingegen aus den wahren Tiefen unserer Persönlichkeit rühren und zum Tageslicht der Verwirklichung drängen.
Kudler – ein exzellenter Kenner der Schriften Campbells – ist es gelungen, verstreute Perlen und Geistesblitze aus den Vorträgen Campbells, die für das Thema der Persönlichkeitsentwicklung relevant sind, zu einer Einheit zusammenzuweben, die jedem, der sich ernstlich um Transformation oder Individuation bemüht, einen wertvollen Leitfaden an die Hand geben. Bemerkenswerterweise wirkt das Buch keineswegs wie ein Flickenteppich, hat der Herausgeber es doch glänzend verstanden, das zusammengetragene Material wie eine Sinfonie einer eigenen logischen Struktur zu unterwerfen und zum Klingen zu bringen.
Dass es sich bei den Wegpfaden zum Selbst – wie man angesichts der Gralsgeschichten, in denen das westliche Ideal der Individuation (wie es später C. G. Jung nennen sollte) meinen könnte – nicht um eine reine Männerangelegenheit handelt, wird im abschließenden Kapitel von Pathways of Bliss deutlich, das aus Gesprächen mit dem Auditorium besteht, wobei über weite Teile der Dialog mit einer weiblichen Zuhörerschaft dominiert.
Auffällig ist, dass, nachdem schon die Videoreihe Mythos ohne Berücksichtigung von Campbells Ausführungen über Gralsgeschichten und Artuslegenden endete, auch in Pathways to Bliss die mittelalterlichen Geschichten, welche Campbell in Bezug auf das westliche Ideal des Individualismus so wichtig waren, nur am Rande Berücksichtigung finden. Vielleicht erwartet uns ja ein weiterer Titel in der Reihe der Collected Works of Joseph Campbell, in dem der abendländische Mythos des Mittelalters gebührend in den Mittelpunkt gestellt wird?
Pathways to Bliss. Mythology and Personal Transformation
Joseph Campbells Leben umfasst eine Zeitspanne, die von Buffalo Bill, über die große Depression von 1929 bis hin zu den Zeiten von Personal Computern und George Lucas’ Star Wars – Filmen reicht. Campbell pflegte einen regen Austausch mit Künstlerfreunden wie George Lucas oder dem Rockmusiker Mickey Lemmle von The Grateful Dead.
Der junge Campbell lernt während einer Europareise den indischen Philosophen Jiddu Krishnamurti kennen. Er bleibt in Europa, um in Paris sein 1925 an der Columbia University begonnenes Studium fortzuführen. Später wechselt er von Paris nach München, da das akademische Umfeld jener Zeit an diesem Ort den Interessen und dem Entwicklungspotential des angehenden Autors eher gerecht zu werden schien. Die Werke von Freud, Jung und Mann lernt er näher kennen, nachdem er (nach einem kurzen und intensiven Studium der deutschen Sprache) sein Studium an der Universität in München fortsetzt. Hier macht er auch die Bekanntschaft mit den Werken Johann Wolfgang von Goethes – ein Mann den der vergleichende Mythologe wegen der Tiefe seiner Einsicht in Mensch und Natur, wie auch wegen seiner Universalbegabung schätzt – ähnlich Leonardo da Vinci, der (neben Douglas Fairbanks) zu den Helden seiner Kindheit gezählt hatte.
Die Tradition deutscher Literatur von Goethe bis Mann lernt Campbell in seinen Münchener Jahren schätzen. Kontrapunktiert wird die Beschäftigung mit der europäischen Tradition nun von einem Studium von Sanskrit, das er später als “die spirituelle Sprache der Menschheit” bezeichnen wird.
Sein erstes eigenständiges Werk Der Heros in tausend Gestalten, anfänglich nur einem auserlesenen Publikum bekannt, wird zu einem der einflussreichsten und wichtigsten Bücher des 20. Jahrhunderts; Campbells Ideen beeinflussen Filmemacher wie George Lukas (Star Wars) genauso wie den Dichter Robert Bly oder die Rockband Grateful Dead; Die Fernsehreihe Joseph Campbell and the Power of Myth erreicht unmittelbar nach dem Tod des großen Mythologen 1987 ein Millionenpublikum. Campbells Versuche, die Wahrheit in Religion und Mythos, in der Tradition von C. G. Jung hinter den Worten und in den transzendenten Abgründen der Psyche zu suchen, wird zu einer der wichtigsten Geistesströmungen unserer Zeit.
Mit freundlicher Genehmigung von Martin Weyers
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