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Sharing Culture – Eine Kraft verändert die Welt

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Der Anteil derjenigen wächst, welche die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen in Frage stellen. Auch der Anteil derjenigen, die gegen Entscheidungen aufbegehren und dafür auf die Straße gehen. Während die einen noch um die Deutungshoheit ringen, als was die Protestwelle hierzulande und anderswo gesehen werden kann, haben andere längst schon mit der Transformation ihres Lebens und ihres Umfeldes begonnen. Sie organisieren sich in Gruppen, initiieren Projekte und experimentieren mit neuen Lebensweisen.

Miteinander teilen

Vieles wird kontrovers diskutiert, vieles läuft ungeregelt und zuweilen sogar chaotisch ab. Und doch scheint es so etwas wie eine Selbstorganisation zu geben, die über alle Rollenbilder und Strukturen bisheriger Zusammenarbeit hinausgeht.

Was generell auffällt, ist, dass es heute für Menschen ganz verschiedener Herkunft, Bildung und Altersstufe leichter geworden ist zusammenzukommen. Zudem gelingt es meist schnell – oft ohne Vorlauf, beinahe aus dem Stand – sich mit anderen auszutauschen und zu vernetzen. Die Zeit, die zwischen Kontaktaufnahme, Planung und Umsetzung liegt – sei es einer Petition, einer Demonstration oder eines gemeinsamen Projektes –, verkürzt sich zunehmend. Irgendwie scheinen die Menschen aufeinander vorbereitet zu sein, vorbereitet, sich aufeinander einzulassen, etwas gemeinsam zu unternehmen und neue Wege zu gehen.

Eine neue Quelle direkten Wissens: Soziale Kreativität

Seit 2011 beginnt sich weltweit ein neuer Prototyp des kreativen Protestes abzuzeichnen. Das Kreative zeigt sich in der Art und Weise, wie demonstriert oder diskutiert wird, wie Ereignisse dokumentiert und Informationen verbreitet werden. Über soziale Medien werden Erfolge wie Fehlschläge aufbereitet und mit der Perspektive geteilt, Lern- und Bewusstseinsprozesse anzustoßen.

Augenzeugenberichte, die über soziale Medien verbreitet werden, brechen das Informationsmonopol der etablierten Medien auf und erlauben einen direkten Austausch der medialen Erzeugnisse der Betroffenen. Solche Vorgänge sind Vorboten einer freien Kultur, die auf dem Prinzip des Teilens aufbaut. Die Diskussion um Besitz- und Verwertungsrechte von über das Internet zugänglichen medialen Erzeugnissen ist im Fluss. Eine Haltung gewinnt an Einfluss, wonach diese Erzeugnisse durch die Präsenz im Internet zum Allgemeingut werden. Zugleich verlässt der Austausch das digitale Terrain und geht auf die physische Ebene über. So besuchen sich Aktivisten einzelner Länder und nehmen wechselweise beratend an den jeweiligen Aktionen vor Ort teil. Es entsteht ein konstanter Informationsaustausch auf mehreren Ebenen, die sich gegenseitig befruchten.

Eine neue globale Gesellschaft mit einer neuen Form von Wirtschaftsorganismus ist so dabei, vor unseren Augen geboren zu werden. In diesem Organismus definieren sich die Einzelnen nicht mehr als Konsumenten oder Konkurrenten, sondern als gemeinsam Produzierende und Agierende innerhalb von Netzwerk- und Gruppenstrukturen. Die Einsicht, dass jeder nur in dem Maße sinnvoll handeln kann, wie es die Umstände für alle erlauben, befreit von dem Druck, sich gegen andere behaupten zu müssen. Sie bildet die Grundlage für eine neue Qualität von Gelassenheit, die wiederum die Grundlage für einen tieferen Rückbezug zum Leben ist. Gelassenheit bedeutet hierbei der nicht anhaftende, nicht wertende Umgang mit den Dingen, der in gleichem Maße zu Gewahrsein und Verbundenheit führt. Dieser bewusstseinsbildende Sinn für Gemeinsamkeit, jenseits des Spiels von Marktkräften, bildet auch die tolerante und experimentierfreudige Grundlage für den offenen Austausch über Möglichkeiten. Solche Möglichkeiten können erst dort aufscheinen, wo auf neue und vertiefte Weise direkt zusammengearbeitet wird.

Trennungen überwinden

Soziale Kreativität können wir in diesem Sinne als eine neu zu entdeckende Form des gemeinsamen toleranten Umgangs miteinander bezeichnen. Eine neue Form sozialen Gewahrseins. Ein Gewahrsein, das damit beginnt, dass Denken, Sprechen und Handeln eins werden. Wenn dieses Gewahrsein “da“ ist, verbindet es Menschen. Alle anscheinenden Trennungen sind überbrückt, alle bestehenden Gräben zwischen ihnen werden überwindbar. Inmitten der Vielfalt wird Einheit sichtbar und für alle zugänglich. Mit diesem Sinn verändert sich der Umgang miteinander. Er wird wohlwollend, authentisch, spontan. Es fällt dann leicht, sich auf wechselnde Umstände flexibel einzustellen. Man nimmt sich gegenseitig ernst und spielt sich nichts vor. Man agiert spontan und zielbewusst bezogen auf gemeinsame Prioritäten. Absorbiert im kreativen Zusammenwirken mit anderen blitzen Eingebungen auf, wird man tieferer Einsichten gewahr. Einsichten, die eine zuvor verborgene umfassende Schönheit und Harmonie offenbaren. Wo ein solches Gewahrsein die Zusammenarbeit erfüllt, muss man sich nicht mehr rein zwanghaft von anderen abgrenzen. Jede Angst, zu kurz zu kommen oder von anderen dominiert zu werden, endet hier.

Intuitives Wissen und ­wechselseitiges Lernen

Viele Qualitäten, die früher mit bestimmten Berufen assoziiert wurden, werden im Feld der sozialen Kreativität zu möglichen Werkzeugen – zu Tools, die es den Menschen ermöglichen, sich vielfältiger auszudrücken, tiefer einzubringen und integrierender zu verhalten als bisher. Durch das Sich-Einstellen auf andere können Fähigkeiten der Metakognition geweckt werden. Mit Hilfe dieses intuitiven Wissens über sich selbst und andere Menschen lassen sich leichter die Informationen auswählen, die für andere und das gemeinsame Anliegen Wert und Bedeutung haben. Die Fähigkeit, zu einer solchen Art von Wissen Zugang zu haben, steht unmittelbar damit in Verbindung, seine eigenen Interessen zugunsten gemeinsamer Prioritäten unterordnen zu können.

Parallel zu einer solchen Entwicklung hat sich auch die Ausübung von Macht verschoben. Wurde in der Zeit vor der Moderne Macht hauptsächlich militärisch ausgeübt und in der Moderne durch Geld, geschieht dies heutzutage mehr und mehr durch soziale Medien. Eine hypervernetzte Gesellschaft ermöglicht, dass einzelne Fragmente des Wissens oder einzelne Individuen sich gegenseitig schnell, leicht und zuverlässig finden können. So unterstützt das Prinzip des Teilens die Transformation von Wissen in Weisheit.

Emanzipatorische Kraft

Soziale Kreativität ist eine emanzipatorische Kraft. Kreative Potentiale lassen sich ab einem bestimmten Punkt nicht mehr einengen im Sinne einer reinen Verwertbarkeit im Rahmen bereits vorgegebener Wirtschaftsprozesse.

Gesellschaft heilen durch Teilen

Das Thema Teilen beschäftigt uns seit über zehn Jahren. Als wir einmal einen Vortrag zu diesem Thema hielten, machten wir auf das Problem des virtuellen Wasserverbrauchs aufmerksam, der in Lebensmitteln und Waren steckt. 2.000 Liter Wasser braucht es, um ein T-Shirt herzustellen, 4.000 Liter für ein Kilo Fleisch und 400.000 Liter für ein Auto.

Sharing als Lebensform

Für viele reduziert sich gegenwärtig der Sharing-Trend noch auf die Frage „Kaufen oder Leihen?“. Hört damit der Sharing-Gedanke auf? Nein, damit fängt er gerade mal an. Es geht ­darum, flexible, kreative Lösungen für alle möglichen Problemstellungen zu finden. Man kann etwas kaufen, um es anderen zu verleihen. Man kann Dinge mit anderen gemeinsam kaufen oder tauschen. Man kann das Verleihen mit anderen Dienstleistungen und Bedürfnissen verbinden. Und vieles mehr. Im Teilen lösen sich die statischen Rollen auf. Man kann Unternehmer, Agent, Verleiher, Kunde, Partner und Vermittler sein.

Praktische Beziehungsethik

Teilen enthält eine praktische Beziehungsethik, wie sie in allen Religionen und Weisheitslehren verankert ist. Indem wir immer mehr zu teilen beginnen, werden wir in die Lage versetzt, das bislang utopische Potenzial dieser Quellen zu erschließen und zu verlebendigen. Selbstsucht kann in Freigiebigkeit umgewandelt werden, Wettbewerbs- und Dominanzstreben in gerechten Ausgleich, Verschwendung in Genügsamkeit. Teilen, so wie es sich derzeitig zeigt, erfüllt das, was Ernst Bloch „konkrete Utopie“ nannte: Es ist ein Prozess der Realitätserkundung und -erprobung, bei dem das Zukünftige tastend und experimentierend hervorgebracht wird. Der Fokus liegt auf einem Handeln, bei dem man sich selbst erfährt, das Spuren in ein ungewohntes Terrain bahnt und das sich auf neue Horizonte ausrichtet.

Erwachen der Menschheit

All das ist kein rein kontinuierlicher Vorgang, sondern ein fraktaler, das heißt einer, der sich auf unterschiedlichen Ebenen gleichzeitig immer mehr gegenseitig verstärkt.

Wir können gegenwärtig drei unterschiedliche Bewegungen hin zu einer Kultur des Teilens beschreiben, die jeweils in einem gemeinsamen Feld agieren und sich so komplex miteinander austauschen:

  • Die weltweite Bewegung der Lebensgemeinschaften, Öko-Dörfer und Kommunen alternativer Lebensformen, ­deren Erfahrungen mit dem Teilen weit in die Menschheitsgeschichte zurück­reichen.
  • Die weltweite Bewegung der Peer-Netzwerke und anderer Online- oder Offline-Gemeinschaften, die sich im Austauschen und Teilen von Ideen und Mitteln gegenseitig unterstützen.
  • Die weltweite Bewegung von Aktivisten, Change-Makers und Bewusstseinsarbeitern, die sich gegenseitig inspirieren und informieren und so die Kultur des Teilens gleichermaßen vordenken und vorleben.

Innerhalb dieser Gruppen ergibt sich ein neuartiger Austausch auf Augenhöhe, bei dem Menschen in ihre eigene Kraft finden, je mehr sie lernen, ihren Mitmenschen zu vertrauen. Dieses Vertrauen zu anderen schließt das Vertrauen in die gemeinsame Stärke mit ein.

Social Sharing wird sich über Gruppenprozesse als die Lösung für ein (qualitatives) Wachstum in einer Postwachstumsökonomie erweisen. Die Folgen dieser neuen Seinsweise haben tiefgreifende Vorteile für uns alle: mehr sozialer Zusammenhalt, nachhaltige Nutzung von Ressourcen und die Integration von heute ausgegrenzten Menschen, denen durch das derzeitige dominante Wirtschaftsmodell das Notwendigste zum Überleben verwehrt wird. Diese Seinsweise ist die Lösung für die gegenwärtigen Problemen auf allen Ebenen und letztlich die Rettung der Menschheit, die sich an den Rand eines Abgrundes manövriert hat.

Kompletter Artikel auf SEIN.de
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FAZ titelt: Sharing – Terror des Teilens
FAZ: Revolution der Möglichkeiten

Sharing Culture – Eine Kraft verändert die Welt
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Nachhaltigkeit + die Entdeckung Trojanischer Pferde…

Populäre Projektionen dessen, wie eine Bewusstseinsveränderung aussehen wird, sind in den meisten Fällen nur eine Neugestaltung der „alten Denkschablonen „. Eine größere, bessere Box, in der das Paradigma aufgewertet wird, das die Bedingungen verbessert, unter denen wir unsere Sucht auf eine „grüne“ Art und Weise genießen können.

So wichtig wie das ökologische Bewusstsein ist, es ist nicht genug. Das neue Paradigma kann nicht aus der intellektuellen Abstraktion einer dualistischen Interpretation einer „besseren Welt“ verwirklicht werden, die auf der Infrastruktur der existierenden Varianten-Matrix aufbaut, die dieses Paradigma erzeugt.

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