„Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen.“ So formuliert die indische Schriftstellerin und Politikaktivistin Arundhati Roy eine Haltung und Erfahrung, die trotz der vielfältigen Krisen unserer Zeit zuversichtlich stimmt. Erdöl und Atomkraft als Pfeiler unserer westlichen Welt wanken beträchtlich. Die Kosten die wir zur Aufrechterhaltung unseres energetisch exzessiven Lebensstil tragen müssen, erscheinen in keiner Betriebsbilanz. Ein wachstumsfrommes Handeln im Rausch des technologischen Fortschritts erlaubt keine Fehler mehr, wie es die Katastrophe von Fukushima gezeigt hat, aber Fehler zu machen ist menschlich.
Mit neuem Denken aus der Krise
Die grundsätzliche Wandlungsbereitschaft und die Einsicht, dass sich etwas ändern muss ist in der Gesellschaft seit den jüngsten Ereignissen so weit verbreitet wie nie zuvor. Gleichwohl erleben sich die meisten Menschen in ihrem Handeln blockiert, zu mehr individueller und gesellschaftlicher Nachhaltigkeit. Wovor haben wir Angst? Warum fällt es so schwer, sich von dem Ballast einer verschwenderischen Konsumgesellschaft, der Abhängigkeit begrenzter fossiler Ressourcen und den sich abzeichnenden globalen Verteilungkämpfen zu befreien?
Das sind die zentralen Themen im neuen Buch von Hans-Peter Dürr, dessen Antworten überraschen mögen. Die Erkenntnisse der modernen Quantenphysik sollen einen Weg in die gute Zukunft weisen, und im Mittelpunkt steht die Überwindung des materialistischen Weltbilds, dass Materie nicht aus Materie aufgebaut ist. Am Ende steht die Einsicht, dass kein Stoff, nur noch Form, Gestalt, Symmetrie und Beziehung übrig bleibt, aber keine Materie. Das Primäre ist Beziehung, der Stoff das Sekundäre, was nach Hans-Peter Dürr mehr dem Geistigen ähnelt und dass alles mit allem verbunden ist, nichts ist in der Natur isoliert.
Der Autor beschreibt nicht nur die abstrakte, naturphilosophische Weltsicht, sondern zeigt in lebendiger sprachen die daraus resultierenden Lebenswelten auf. Das Buch führt in den ersten beiden Kapitel in die neue Physik ein, der Hauptteil ist in zwölf zentrale Themen aufgeteilt, von A wie Arbeit und Atomkraft bis Z wie Zivilgesellschaft und Zukunft. „Die Zukunft ist offen“ lautet das Credo des Buches, und der Träger des alternativen Nobelpreises zeigt Wege auf, wie wir die Enge des materialistischen Weltbildes überwinden und ein Leben im Einklang mit der Natur zurückfinden.
Unsere westliche Konsumkultur, unser Leben verachtendes wirtschaftliches Wettrennen stellt nur eine winzige Nische innerhalb unserer Möglichkeiten dar. Trotzdem glauben viele Menschen, dass die wirtschaftlichen Sachzwänge Naturgesetze seien. Nein, es sind menschengemachte Zwänge.
Das Lebende lebendiger werden lassen
Die Naturwissenschaft und Technik hat für den Menschen vielfältige Möglichkeiten eröffnet, Naturprozesse für seine Zwecke zu nutzen. Aber nicht nur zum Vorteil, denn wir stehen in der Krise der Immanenz, und bereits auch mitten in einer neuerlichen Krise, die „Erschöpfung der Moderne“ genannt werden könnte. Die Krise bestehe darin, dass die westliche entwickelte Welt in all ihrem Überfluss unter dem Hunger nach Sinn und einem Gefühl des Verlorenseins leidet.
Der Widerstand, das im eigentlichen Sinn Vernünftige zu tun, resultiert aus falschem Verständnis unserer Rationalität, wobei wertebezogene Vernunft zu wenig einbezogen ist. Es ist der wohl verständliche Wunsch, die undurchsichtige Komplexität unserer Mitwelt auf etwas für uns Einfacheres zu reduzieren.
Die Verantwortung heute bestehe in Zeiten einer umfassenden globalen ökologischen Krise darin, unser Leben und Wirtschaften an der Nachhaltigkeit auszurichten, um ein langfristiges Überleben der Menschen zu sichern. Und das bedeutet nichts anderes als die Unterstützung der allgemeinen dynamischen Lebensprozesse, ihrer Vitalität, Produktivität, Robustheit und Elastizität, auf individueller und politischer Ebene.
Der enorme Aufschwung der Wirtschaft in den industrialisierten Ländern basiert wesentlich auf Bankraub: Wir stellen Schweißgeräte her, brechen damit einen Naturtresor nach dem anderen auf, nehmen Schätze und Energie heraus, um nebenbei neue, raffiniertere und meist auch teurere Schweißgeräte zu bauen, mit denen immer dickwandigere Naturtresore geplündert werden. Diese Banktäuberei erlaubt nur einem kleinen Teil der Menschheit ein fortschreitend gutes Leben. Allen anderen Menschen wird suggeriert, jeder der leistungsfähig und clever genug sei, kann daran teilhaben. Was in Wirklichkeit nicht möglich ist, sondern eher einem Karussel ähnelt, wo erst jemand herausfällt und Platz für den Neuen macht.
Wörterbuch des Wandels
Die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft erreichen wir erst, wenn wir die Fesseln unseres zu engen Weltbildes abstreifen und eine neue geistige Orientierung gewinnen. Die Herauforderungen zeigen sich nicht erst in der weiter schwelenden Finanzkrise, auch das Wirtschaftgeschehen hat zu einer sozialen und ökologischen Destabilisierung geführt. Dies geschah zwar ohne Absicht, aber in diesem Teufelskreis sind wir dabei, unsere Lebensgrundlagen zu zerstören.
Viele Menschen glauben nicht an Gerechtigkeit und Frieden aus ihrem eigenen Selbst heraus, sondern an eine Natur, an der am Ende immer nur der Mächtigste überlebt.
Dieses falsche Menschen- und Weltbild mag auch den Verlust der geistigen Dimension erklären. In diesem Weltbild glauben wir nur was materiell greifbar ist, was rational erfassbar und beweisbar sei. So haben wir sehr vieles noch nicht verstanden und leben dennoch weiter, weil im Hintegrund etwas ist, so wie unser Herz weiterschlägt, auch wenn wir nicht daran glauben.
Arbeit
Arbeit wird heute als Erwerbsarbeit definiert, um Geld zu verdienen. Der Mensch definiert sich aber auch durch sein Bewusstsein und Begabungen zum absichtlichen und kreativen Handeln, dem Gestaltungswillen und künstlerischen Gabe, seinem analytischen Verstand und Vernunft, Empahtie und Liebe, emotionalen Ausdrucksformen und spirituellen Sensibilität.
Eine freie Entfaltung in diesem Sinne ist für die Entwicklung des Menschen wesentlich. In der modernen Gesellschaft ist eine arbeitsteilige Produktion vorherrschend, kein selbsgewähltes Handeln sondern zur Arbeit degradiert. Die Entfremdung des Arbeitenden von sich selbst und seiner Mitwelt, arbeiten um Geld zu verdienen, und Arbeit verliert so Sinn und Bedeutung.
Eine Lösung könnte hier durch eine „horizontale Dualwirtschaft“ erreicht werden, in der nicht nur von einem insdustriell und kommerziell betriebenen formellen Sektor ausgegangen wird, sondern ein zweiter nichtmonetärer informeller Sektor. Dieser zeichnet sich aus durch menschliche Kontakte und Zuwendung, der von allen Beteiligten betrieben würde, und nicht nur einer bestimmten Gruppe. Das Ziel ist, den Menschen und seine Vielfalt, die in jedem angelegt ist, zu fördern und auszuleben.
Atomkraft
Die Besonderheit bei der Kernenergie ist eine millionenfach höhere Energieentfaltung, mit ähnlichen Mängeln behaftet, wie beim Verbrennen von Kohle: Brandgefahr bei Störfällen und nicht geschlossene Prozessketten.
Risiken kann derjenige auf sich nehmen, der ausschliessen kann, das keiner ausser ihm selbst betroffen sein wird. Seit Fokushima wissen wir, dass ein Restrisiko niemals kalkulierbar ist und noch grössere Schäden verursacht werden können, als das was wir bisher erlebt haben:
– räumlich extrem grosse Bereiche werden über Generationen unbewohnbar
– Anzahl zukünftiger Krebskranker nur die Spitze des Eisberges
– Radioaktibvität tötet nicht nur, sondern schädigt unser Erbgut.
Jeder soll sein Leben mit Risiken eingehen, wenn die Folgen nur ihn betreffen, aber Kernenergie trifft hauptsächlich unsere Kinder und Kindeskinder und abgesehen vom Endlagerproblem mit hochgiftigem Müll sind sehr viele Menschen betroffen, die nicht einmal Nutzniesser dieser Vorteile sind.
Energie
Die Basis einer ökologisch nachhaltigen Wirtschaftsweise ist eine langfristige Energieversorgung und eine Frage der Ordnung. Energie kann nicht verloren gehen, sondern verwandelt sich von einer Form in eine andere, z.B. elektrische Energie in Bewegungsenergie oder Wärmeenergie. Die Qualitätseigenschaft der Energie nennt man Syntropie oder Ordnungsenergie. Für Syntropie gilt kein Erhaltungssatz wie für die Energie. Hans-Peter Dürr hat dazu anstatt die Kennzahlen von Kilowatt oder Joule den Energiesklaven zur Verständigung und Vergleichbarkeit eingeführt: 15 Energiesklaven pro Erdenbürger ist ausgewogen und stabilisiert das System. Diese Kennzahl entspricht dem Lebensstil eines Schweizer Bürgers in den 1960er Jahren. US-Bürger verbrauchen derzeit 110 Energiesklaven, Mitteleuropäer ca. 60, Chinesen 10, Inder 6, Bangladesch 1 und in Afrika pro Person nur einen halben Energiesklaven.
Nachhaltigkeit – langweiliger Begriff – aufregende Sache
Der englische Begriff von Nachhaltigkeit „Sustainability“ beschreibt besser, was eigentlich gemeint ist: Dynamik, Vitalität und Produktivität bewahren und fördern. Das Lebende lebendiger werden lassen, um das was immer wir tun, noch lebendiger werden zu lassen, ohne unsere Lebendigkeit auf Kosten der Lebendigkeit um uns herum zu behaupten oder zu steigern.
Nachhaltigkeit bedeutet die Lebendigkeit des ganzen Biosystems und dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden. Wir wollen die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zerstören, wir wollen dass die Menschen friedlich und gerecht zusammenleben, und wir wollen ein gutes und lebenswertes Leben haben. Aber es geht nicht nur um das physische Überleben des Menschen, sondern auch um sein emotionales uns geistiges Potenzial, welches seine Eigenart ausmacht und jeder für sich einfordern kann. Ökonomie kann diese Vorrausetzung nicht bieten. Die Prioritätenfolge ist demnach die Natur oder Ökologie, Gesellschaft und dann Ökonomie. Nachhaltig ist das, was sich langfristig bewährt, was nicht durch Rezepte erreicht wird, sondern durch eine offene, aufmerksame, umsichtige, flexible, kreative, einfühlende und liebende Lebenseinstellung.
Diese Haltung kann nicht von oben verordnet werden, sondern wächst von unten bzw. von innen heraus, aus der Mitte der Gesellschaft.
Weitere Stationen im Wörterbuch des Wandels
Frieden
Poesie
Transzendens
Verantwortung
Wirtschaft
Wissenschaft
Zivilgesellschaft
Zukunft
Die Zukunft ist offen. Handeln wir also so, als ob noch alles möglich wäre.
Link > Alles ist Bewusstsein
Hans-Peter Dürr, geboren am 7.Oktober 1929 gilt als einer der bedeutendsten Querdenker unserer Zeit umd Impulsgeber der internationalen Umwelt- und Friedensbewegung. Nach dem Physikstudium wurde er 1956 an der Universität of California in Berkeley bei Edward Teller promoviert. 1962 erfolgte die Habilitation an der Unversität München. Von 1958 bis 1976 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter von Werner Heisenberg, dem Mitbegründer der Quantenmechanik und Nobelpreisträger für Physik. Danach leitete er fast zwanzig Jahre lang bis zu seiner Emeritierung 1997 das Max-Planck-Institut für Physik in München sowie das Werner-Heisenberg-Institut. 1987 gründete er Global Challenges Network und erhielt im gleichen Jahr den Alternativen Nobelpreis der Right-Livelihood-Foundation. Dürr ist Mitglied des Club of Rome und seit 2007 Ratsmitglied im World Future Council.